
Raunzen & Reisen: Warum mich der Villacher Kirchtag als Neustifterin überrascht hat
Wir lieben Reisen, und ganz ehrlich: Wir lieben auch Raunzen. Weil beides wunderschön sein kann, teilen wir hier schamlos unsere Gedanken und nehmen euch diesmal mit auf gleich zwei Kirtage. Denn unsere Redakteurin Sonja ist in der Nähe von Neustift aufgewachsen und somit so etwas wie eine naturgegebene Expertin. Nun hat sie für uns den Villacher Kirchtag ausgecheckt.

Eins vorweg: Als selbsternannte Ehrenbürger Berlins hätte ich noch vor einem Jahr nicht gedacht, dass ich mich einmal als Expertin für Dirndl-Festln äußern würde. Aus meinem Spotify schallt normalerweise nicht Helene Fischer, sondern Techno und auch politisch rechts angehauchte Boys zählen nicht zu einem perfekten Feierabend für mich. Aber die Meldebestätigung meiner ersten 18 Jahre sagt etwas anderes, und der Neustifter Kirtag ist mein persönliches Heimspiel.
Denn Fortgehen hat in meinen Anfangsjahren Klopfer trinken und unangenehm berührt die Blicke von feschen, aber bepickelten Boys abwenden in den inneren Bezirken – und somit immer eine elend lange Heimfahrt – bedeutet. Nur einmal im Jahr, da nicht: Der Neustifter Kirtag war mein persönliches Coachella.
Der Neustifter Kirtag war mein persönliches Coachella
SONJa Koller
DER Wiener Kirtag
Nicht nur traf man auf einer Art Austrian Homecoming jede Menschenseele meiner Schule zum ersten Mal seit Wochen wieder, auch Feierwütige aus anderen Bezirken strömten in den 19. – für mich damals unglaublich.
Denn, was ich erst verstanden habe, als ich bereits wahlberechtigt war: Nicht jeder Bezirk, wie von mir anfangs fälschlicherweise angenommen, hat einen eigenen Kirtag. Und jener in Neustift ist für viele Wienerinnen die einzige Möglichkeit im Jahr, das Dekolleté als Kultur zu bezeichnen und schamlos für Aufrisse einzusetzen. Trust me, I know: Meinen ersten Kuss hatte ich am Neustifter Kirtag. An dem, so scheint es zumindest, dafür eigens eingerichteten Ort: der Kirchengasse.

Anarchie wie in Neustift?
Nun bin ich es Jahre später, die mit Dirndl im Gepäck nicht nur Bezirks-, sondern sogar Bundesländergrenzen überschreitet. Denn ich bekomme nach meinen Berlin-Jahren in meinem ersten Sommer zurück in der Alpenrepublik ein ganz persönliches Wiedereingliederungs-Programm: Ich schaue mir den Villacher Kirtag an.
Worauf ich mich nach mindestens acht Ausgaben Neustifter Kirtag einstelle? Das weite Umgehen jeglicher auch nur ansatzweise in den politischen Bereich abdriftenden Gespräche und jede Menge Menschen, denen ich ganz, ganz dringend Wasser besorgen, oder für die ich die Augen für den/die nächsten Rettungssanitäter*in aufhalten muss.
Aber: Ich höre nicht mal Leila. Während ich fest damit gerechnet habe, ein Festzelt verlassen zu müssen, wenn mal wieder ein menschen- oder frauenverachtendes Lied gespielt wird: Das ist hier echt ok.
Ich höre nicht mal Leila.
Sonja Koller
Mein größter Schock am Villacher Kirtag
Ich tanze zu Cordula Grün auf der Bühne, trinke Spritzer zu Preisen, von denen man sich in Neustift gerne etwas abschauen kann, und muss meine Ellenbogen kein einziges Mal ausfahren. Nicht mal, als ich mich als Wienerin oute, wird gestänkert. Ich muss keinen Spießrutenlauf zwischen Lacken dubioser Herkunft hinlegen und auch niemanden wegschieben, der mir vor die Füße kotzen will.
Der absolute Schock aber kommt erst ganz zum Schluss: Fünf Minuten, nachdem der Kirtag um ein Uhr morgens offiziell endet, sind die Gassen wie leergefegt. Es hat doch was Gutes, wenn alle nicht einfach weiter in den Volksgarten torkeln, sondern auf die letzten Züge nach Hause angewiesen sind.